Stimmt’s, der Kellner ist nett – Über Kellner und deren Tricks für mehr Trinkgeld
Mit ein paar kleinen aber wirkungsvollen Tricks entlocken Kellner und Bedienungen uns Gästen ein höheres Trinkgeld …
Mein Sohn steckt zurzeit mitten in der Pubertät. Alles ist peinlich: Ich bin peinlich. Meine Frau ist peinlich. Wie wir aussehen, ist peinlich. Was wir tun, ist peinlich. Was wir sagen, ist peinlich und was wir nicht sagen, ist auch peinlich.
Heute ist unser erster Urlaubstag. Die lange Fahrt war anstrengend. Jetzt noch etwas Gutes essen, und dann ab ins Bett. Wir haben Glück und bekommen im Restaurant noch einen schönen Platz direkt an der Standpromenade. Der Einzige, dem unser Logenplatz nicht gefällt, ist mein Sohn. Er hat sich dezent mit dem Rücken zur Strandpromenade hin platziert, in der Hoffnung, von den ihm vollkommen unbekannten vorbeiflanierenden Menschen nicht erkannt zu werden. Denn mit den Eltern zusammen an einem Tisch gesehen zu werden, das ist megapeinlich. Zumal mit solchen Eltern.
Es dauert lange, bis wir die Speisekarten bekommen und noch länger, bis wir endlich bestellen können. Zumindest scheint uns der Kellner zu verstehen, denn er wiederholt korrekt alles, was wir sagen. Service und Essen sind dann eher mäßig und unkoordiniert: Meine Frau bekommt ihre Vorspeise gerade einmal fünf Minuten vor dem Hauptgericht, ich warte dagegen zehn Minuten länger. Der Rest der Familie ist schon fast mit dem Essen fertig, und ich habe immer noch HUNGER. Mein Sohn bekommt kein Ketchup zu seinen Pommes und auf Nachfrage dauert es dann nochmals fünf Minuten. Inzwischen ist die eine Hälfte der Pommes ohne Ketchup gegessen, die andere Hälfte kalt. Na ja, sofern in dieser Hitze hier überhaupt etwas kalt werden kann. Hoffentlich ist das Meer auch so warm. Ich freue mich schon auf morgen …
Immerhin bringt uns der Kellner noch drei kleine Schnäpschen zum Abschluss. An meinen Sohn gewandt fragt er mit einem Augenzwinkern: »Due auch Snaps?« Mein Sohn wächst in diesem Augenblick um mindestens drei Zentimeter. Das ist das erste Mal, dass er im Restaurant an dieser Stelle etwas »Richtiges« und nicht nur einen Lutscher bekommt. »Stimmt’s, der Kellner ist nett«, meint er denn auch prompt, kaum dass der Mann außer Hörweite ist. »Ja, aber die Hälfte von deinem Schnaps ist für mich«, scherze ich. Mein Sohn findet das gar nicht lustig.
Als wir sagen, dass wir zahlen wollen, setzt sich der Kellner kurz zu uns an den Tisch. Wir sollen ihm helfen und nochmals wiederholen, was wir bestellt hatten.
Kurze Zeit später bekommen wir die Rechnung auf einem kleinen Teller serviert. Dies ist hier in Spanien so üblich, und, ehrlich gesagt, finde ich das viel angenehmer als in Ländern, wo die Kellner beim Bezahlen ungeduldig mit einer weit aufgerissenen Jumbo-Geldbörse neben mir stehen und nervös mit dem Kleingeld klimpern. Der Kellner liest noch einmal vor, was wir alles hatten und entschwindet dann wieder. Wir haben genug Zeit, das Geld zusammenzukramen.
»Dem gibst du aber viel Trinkgeld, oder?«, fragt mein Sohn. »Na ja«, bremse ich, »Der Service war eigentlich nicht so toll. Aber die Tricks, um mehr Trinkgeld zu bekommen, die hat er voll drauf.« »Aber er war doch nett!«, beharrt mein Sohn. »Klar war er nett, ganz besonders zu dir. Er will ja auch Trinkgeld – von mir!«, antworte ich »Das gibst du ihm aber auch.« »Ja, aber nicht zu viel. Ich hab da neulich im Zug mal ein Gespräch zwischen zwei Studentinnen belauscht, wie die das so machen. Echt clever.« »Und wie?« »Also gut:
- Am wichtigsten ist natürlich, immer zu lächeln und freundlich zu sein.
- Dann zeigen sie ein Herz für Kinder – Entschuldigung, für Jugendliche. Sie reden nett mit ihnen oder machen kleine Scherze.
- Wenn keine Kinder da sind, aber ein Hund, dann läuft es über diesen. Die Kellner machen dann zum Beispiel einen schmeichelhaften Kommentar, wie süß der Hund denn sei, streicheln ihn oder geben ihm eine Kleinigkeit zu fressen.
- Außerdem sagen die Kellner auffällig oft Ja und nicken bestätigend. Sogar dann, wenn du gar nichts gefragt hast. Wenn sie dich zum Beispiel vor dem Essen fragen, ob du eine Vorspeise magst, oder nach dem Essen, ob du noch einen Espresso magst, und beim Stellen der Frage nicken, erhöht das die Wahrscheinlichkeit, dass die Leute etwas bestellen. Sie nehmen gewissermaßen die Zustimmung schon vorweg. Das erhöht dann zwar nicht direkt das Trinkgeld, aber indirekt, denn je höher die Rechnung desto höher im Allgemeinen ist auch das Trinkgeld. Manche Kellner sind auch am Umsatz beteiligt.
- Einige versuchen, durch ihre Kleidung oder durch ihr Auftreten irgendwie aufzufallen. Zum Beispiel im Alpenraum die Bedienung im Dirndl, oder beim Italiener der Kellner, der deine Mutter mit »Signora« anspricht.
- Wenn sie schlau sind, wiederholen sie die Bestellung wie ein Echo. Das ist einerseits gut, um Missverständnisse zu vermeiden, bringt aber auch mehr Trinkgeld. Angeblich soll die Wiederholung das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken.
- Beim Schreiben der Rechnung setzen sich manche zu dir an den Tisch oder gehen in die Hocke. Damit begeben sie sich auf deine Augenhöhe. Das wirkt irgendwie freundschaftlich, und automatisch gibt man mehr Trinkgeld. Erinnerst du dich, wie sich unser Kellner vorhin wegen der Rechnung kurz zu uns hingesetzt hat? Und dann hat er uns aufzählen lassen, was wir alles bestellt hatten. Das sollte uns suggerieren, dass er uns vertraut. In Wahrheit hatte er das sicherlich längst alles in seinem Computer, so schnell, wie er mit der Rechnung zurückkam.
- Was uns erspart geblieben ist, ist schließlich noch die Wetterprognose. Ohne Witz: Wenn die was von »Morgen gute Wetter« faseln, bekommen die im Schnitt ein höheres Trinkgeld. Ganz egal, ob die Prognose stimmt oder frei erfunden ist.
- Und dann gibt es noch die scheinbar zufällige Berührung. Wenn du schon am Zahlen bist, berühren sie wie zufällig Deine Hand. Bis zu 40 Prozent mehr Trinkgeld soll das bringen. Oder sie berühren dich irgendwo, wenn sie das Essen auf den Tisch stellen. Auch dies stärkt anscheinend irgendwie das Zusammengehörigkeitsgefühl zum Kellner, denn normalerweise lässt man sich schließlich nur von Menschen berühren, die man mag.
- Und zum Abschluss unser Schnäpschen. Da war natürlich auch ein Hintergedanke mit dabei. Wer etwas bekommt, fühlt sich automatisch zu einer Gegenleistung verpflichtet.«
Mein Sohn ist mir offenbar nicht ganz bis zum Ende meiner zugegeben etwas länglichen Ausführungen gefolgt. Verstohlen blickt er zum Nebentisch hinüber, an dem eine Familie mit einer Tochter in ungefähr seinem Alter Platz genommen hat. Auch meine Gedanken schweifen jetzt etwas ab und wehmütig zurück in meine eigene Jugendzeit. Aber schon holt mich die Stimme meiner Frau wieder in die Gegenwart zurück: »Willst du nicht endlich mal zahlen?« »Äh – ja. Scheint ja eh keinen zu interessieren, was ich hier erzähle.«
Also krame ich das Geld zusammen und lege es auf den Teller. Mein Sohn war aber offenbar doch mehr bei der Sache, als ich dachte. Er hat genau aufgepasst und empfindet die Höhe des Trinkgelds denn auch prompt als zu gering und tituliert mich als alten Geizhals. Beim Aufstehen zieht er sich aller Wärme zum Trotz die Kapuze seines Pullovers über den Kopf. Bloß nicht erkannt werden beim Verlassen des Restaurants. Dieser geizige Vater ist einfach nur peinlich.